Der 1. Tag
Die Sonne scheint, die Tartanbahn ist trocken, der Wind weht von
hinten. Beste Bedingungen für den 100 Meter Lauf, die erste Diziplin im
Zehnkampf. Gleich beweist sich, wie gut unsere Vorbereitung in den
letzten vier Wochen war. Das Training auf der Anlage in
Berlin-Hohenschönhausen am Mittwoch Abend. Dort wo sich zum ersten
Jedermannzehnkampf des Jahres in Deutschland über 70 Sportler
eingefunden haben. Acht Frauen darunter, die auch über die volle
Distanz gehen wollen. Respekt! Sogar aus Jena sind Sportler angereist,
vier Profis und ein amtierender Weltmeister stehen mit auf der
Starterliste.
Die
Nervosität ist gross - seit halb sechs Uhr bin ich vor Aufregung wach.
"High noon" ist es soweit: "Auf die Plätze" .... "Fertig" .... Ein
Klatschen (oder ist es ein Schuss) peitscht in die Stille. Wir
schnellen aus den Startblöcken und sprinten dem Ziel entgehen.
13,4 Sekunden. Besser als erwartet. Aber immer noch fast eineinhalb
Sekunden hinter meiner Bestzeit, die ich als 15jähriger gelaufen bin.
Ankommen ist alles. Vor allem, wenn man über 20 Jahre nicht mehr
ernsthaft Leichtathletik trainiert hat. Einer ist schon ausgestiegen -
Oberschenkelzerrung nach 50 Metern. Ich bin euphorisch - mit dieser
Zeit und Platz 2 im Lauf war nicht zu rechnen. Zumal ich Ingo - meinem
Trainingspartner - auf der Ziellinie noch abgefangen habe. Sein letzter
Zehnkampf ist auch zwei Jahrzehnte her. Seine Familie ist zum Wettkampf
gekommen. Mutter, Vater, Sohn und Frau. Er will es sich noch einmal
beweisen, genauso wie wir alle.
Nach dem Sprint schlendern wir zufrieden über den Rasen, der
Weitsprunggrube entgegen. Ingo legt erst einmal einmal einen satten
fünf Meter Satz hin. Wow!!! Meinen zweiten Sprung treffe ich optimal:
4,83 Meter und damit 350 Punkte. Den dritten Versuch lasse ich aus.
Besser
geht es nicht und die Kraft wird man noch für die anderen acht
Diziplinen brauchen. Sehe lieber gemütlich Axel bei seinem letzten
Hüpfer in den Sand zu. Er hat bereits am Morgen für Aufsehen gesorgt.
"Stark, ganz stark", sagt Trainer Winfried Heinicke als Axel in seinem
engen Trainingsanzug des DDR-"Armeesportclub Vorwärts" das Stadion
betritt. Ein Geschenk der Ex-Freundin. Er steht im Mittelpunkt, egal ob
das leicht verstaubte, braune Nylon noch am Körper kratzt.
Kugelstossen und Hochsprung absolvieren wir zügig. Etwas deprimierend
ist es aber schon, wenn andere zum Einspringen 1,70 Meter auflegen. Da
habe ich selbst mit dem Stab Probleme. Mittlerweile sind Bekannte
gekommen, die meine Sprünge über die Hochsprunglatte lautstark
begleiten. Als ich schon ausgeschieden bin läuft der 23jährige André
zur grossen Form auf. Mit einer Bestleistung von 1,40 steigert er sich
Höhe um Höhe. "Drei Jahre versuch ich dass schon. Und immer war bei
1,40 Schluss. Wahnsinn" jubelt er. Jeder gönnt ihm die neue
Bestleistung von 1,56 Metern. Szenenapplaus - "das ist Leichtathletik"
sagt freudestrahlend ein Helfer.
Zwischendurch kommt der Hunger. Der Verpflegungsbeutel wird geplündert,
getrocknete Pflaumen, eine Mini-Salamie und ein Schokoriegel verdrückt.
Die Oberschenkelmuskeln schmerzen. Manch einer genießt eine kurze
Massage.
Viereinhalb
Stunden sind vorbei, der 400 Meter Start rückt näher. Die letzte
Disziplin des ersten Tages. Nicht Sprint, nicht Langstrecke. Irgendwie
wirst du schon auf der Stadionrunde verrecken. Uns ist mulmig.
Vorsichtig frage ich Mirko nach seinem letzten Wettkampfergebnis. Er
hat schon vier Jedermannzehnkämpfe geschafft, ist somit der Experte in
unserem kleinen Team, das sich während des Vorbereitungstraining
kennengelernt hat.
Plötzlich wird das Wetter schlechter, Regentropfen fallen auf die Bahn.
Als wir in die Startblöcke gehen, sehe ich Ingo vor mir - im Hochstart.
Dann geht es ab. Renne was du kannst, langsamer wirst du von allein.
Nach 100 Metern, ausgangs der ersten Kurve, kommt plötzlich eine
Windböhe. Kalt, nass, ekelig. Ein Gefühl: als ob man auf der Stelle
stritt. Trotzdem weiter - die Gegengerade entlang. Der Atem keucht -
doch Ingo kommt und kommt nicht näher. Nach 250 Metern habe ich ihn
endlich erreicht und überlaufen - danach geht gar nichts mehr. Nur noch
"beissen". Mirko ist zehn Meter enteilt, von hinten überläuft mich ein
anderer. Die 400 Meter - das härteste Stück am Zehnkampf. Danach mußt
du dich zum Auslaufen quälen. Zumal die anderen schon gemütlich bei
Steaks und Berliner Pilsener sitzen. Dennoch: die drei Runden lockeres
Traben werden sich am nächsten Tag bemerkbar machen. Positiv, so hoffe
ich.{mospagebreak}
Der 2. Tag:
Zehn
Hürden hintereinander, wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Die muß
man überwinden - irgendwie. Viele Zehnkämpfer haben bereits hier ihren
Wettkampf beendet. Sind ins straucheln gekommen, gestürzt. Axel, Ingo
und ich sind bisher im Training die 110 Meter Hürden noch nicht
gelaufen, spekulieren auf eine Zeit zwischen 22 und 25 Sekunden. Axel
ärgert sich ein wenig, daß er nicht mit uns zusammen im gleichen Lauf
startet. Aber auch so herrscht am Start Spannung, der Puls rast, durch
den Körper strömt Adrenalin. Bloss keine Hürden reissen, nur ins Ziel
kommen.
Christian Tack, der bisher Führende des Jedermannzehnkampfes hat sich
eben erst an der zweiten Hürde verletzt. "Zerrung oder vielleicht einen
Muskelfaserriss", mutmaßt der 25jährige Profi. Für ihn ist der
Wettkampf vorbei - Schade. Mit 3300 Punkten war er ziemlich gut dabei.
Blöd bloss, daß ich zwei Läufe später auf der gleichen Bahn starte.
Wieder
einmal im Startblock sitzen geblieben. Mirko und Ingo sind schon längst
weg. Nur langsam komme ich in Schwung. Immer flacher gehe ich über die
Hürden, habe Ingo eingeholt. Am Ende ein kurzer Sprint, im Ziel ein
Schrei der Erleichterung. Wir sind alle zufrieden. Keiner ist gestürzt,
jeder unter die fast magische Grenze von 22 Sekunden gekommen. Das
Gröbste scheint geschafft, fehlen nur nur noch Punkte vom
Stabhochsprung.
Vorher jedoch geht es erst einmal auf eine Nebenanlage - Diskus werfen.
Der Wettkampf ist außerhalb das Stadions. Das Los von Zehnkämpfern, die
die Bezeichnung "Amateure" (zu recht) tragen. Viele Athleten aus
unserer Gruppe 3 haben beim Jedermannwettbewerb schon oft mitgemacht.
Beim Diskuswerfen beanspruchen sie kleine Stahlplatten mit ihren
Lieblingsnummern "13, 4 oder 8". Sei es Aberglaube, sei es Tradition.
Denn: da nicht jeder Wurf gleich vermessen wird, stecken erst einmal
schwarz-weisse Tafeln im staubigen Sektor. Es erinnert ein wenig an
Schokostreusel, wahllos verteilt auf einem Tortenstück.
Eine
Stunde später: Stau auf der Anlaufbahn. Mehr als zwei Dutzend Springer
halten Stäbe in der Hand, wollen ihren Anlauf testen. Um im Zeitplan zu
bleiben, werden zwei Gruppen zusammengelegt. Profis starten neben
Amateuren. Während letztere bereits bei 1,10 Metern beginnen (für diese
Höhe gibt es sieben Punkte), liegen die Profis gelassen auf der
Tartanbahn und geniessen die Sonne. Erst wenn die Latte auf 2,50 Meter
liegt, werden sie wieder springen. Während wir bereits (leicht
frustriert) zum Speerwerfen gewandert sind, erklimmen sie Höhe um Höhe.
3,50 Meter erreicht Klaus-Peter Neuendorf. Der 48jährige ist immerhin
amtierender Zehnkampfweltmeister in seiner Altersklasse.
Es
hat leicht zu nieseln begonnen. Der Anlauf beim Speerwerfen wird
schmierig. Mit normalen Turnschuhen gibt es kaum noch Halt. Manch ein
Werfer rutscht aus oder übertritt beim Anlauf. Nach drei Würfen heißt
es warten auf die letzte Diziplin. Einen Lauf über dreieindreiviertel
Stadionrunden. Wieder heißt es die Muskeln "warm" machen, die Sehnen
dehnen. Wir quälen uns die Laufbahn entlang, zum x-ten Male an diesem
Wochenende. Die Oberschenkel schmerzen, die linke Archillesferse auch.
Nur noch 1500 Meter, dann ist alles vorbei.
15 Leute stehen an der Startlinie - ringen um die beste
Ausgangsposition. Nach dem Startkommando hasten wir los als gelte es
lediglich 400 Meter zu rennen. Eine halbe Stadionrunde bleibe ich an
den Führenden. Dann muß ich abreissen lassen. Das Tempo ist höllisch.
Die 1500 Meter läuft halt jeder für sich und am Besten in seinem Tempo.
Es ist der letzte Fight des Zehnkampfes, eine Tortour für die Knochen.
"Beissen",
"Durchhalten", "Du schaffst es" - brüllen unsere Betreuer aus dem
Innenraum. Das gibt zusätzlich Motivation, von irgendwoher kommt die
Kraft. Noch 200 Meter. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie vorn zum
Schlußspurt ansetzen. Das Ziel kommt näher, der Atem rast. Dann einfach
fallen lassen. Jeder ringt nach Luft. Erschöpft, aber glücklich liegen
wir auf der Tartanbahn. Es folgt das Abklatschen - Gegenseitig. Unser
Glückwunsch und die faire Anerkennung an all jene, die ihren Zehnkampf
geschafft haben.